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Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? – Buchrezension zum Gesprächsband von Manfred Lütz

Ich habe für das Literaturblog Aufklappen Manfred Lütz' Gesprächsband Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? gelesen und besprochen. Es ist ein sehr lesenswertes Interview mit dem weltbekannten Psychoanalytiker Otto Kernberg, in dem es unter anderem auch um die Frage geht, wann eine Psychotherapie ratsam ist und was der Unterschied ist zwischen Seelsorge und Psychotherapie. Außerdem geht es um viele weitere spannende Themen, die auch für die Beratung und die Frage, wie gutes Leben gelingen kann, relevant sind.
Otto Kernberg ist nicht nur einer der bekanntesten Psychoanalytiker unserer Zeit, er ist auch ein feinfühliger Intellektueller und Zeitzeuge mit bemerkenswerter Lebensgeschichte. Im Gespräch mit Manfred Lütz spricht Kernberg über sein Schaffen als Psychotherapeut, über seine Kindheit in Wien und seine Flucht vor den Nazis, über das Böse und das Pathologische, über Moral und Verantwortung, über das Glück, Kunst und Heimat. Dabei herausgekommen ist ein differenziertes, kluges Buch zu den großen, zeitlosen Fragen nach einem erfülltem Leben und gelingendem gesellschaftlichen Miteinander.
Als Psychiater und Psychoanalytiker, ehemaliger Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) und weltweit anerkannter Experte für Persönlichkeitsstörungen ist Otto Kernberg seit vielen Jahrzehnten eine Berühmtheit in seinem Metier. Auch mit 92 Jahren arbeitet er weiterhin zwölf Stunden am Tag als Psychotherapeut, Supervisor und Wissenschaftler. Im Januar 2020 traf der Theologe, Psychoanalytiker und Sachbuchautor Manfred Lütz ihn zum Interview in New York. Aus den insgesamt 22 Stunden Gesprächsmitschnitt der gut miteinander bekannten Kollegen entstand der vorliegende Gesprächsband Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?, in dem die beiden einen gemeinsamen Gedankenspaziergang durch Kernbergs berufliches Schaffen und sein bewegtes Leben unternehmen.
Zunächst widmet sich das Gespräch der Psychotherapie. Kernberg erklärt, welche psychischen Auffälligkeiten behandlungsbedürftig sind, welche der beiden großen Psychotherapieschulen – kognitive Verhaltenstherapie und Psychoanalyse – sich jeweils besser zur Aufarbeitung welcher Fragestellungen eignen. Er äußert seine Einschätzung zu der Frage, welchem Zweck Therapie dient, was sie zu leisten vermag – und was eben auch nicht. So kritisiert er, dass Psychotherapie zum Teil dazu benutzt werde, sich aus der Affäre zu ziehen und die Verantwortung für die Lösung reeller Lebensprobleme abzugeben. Psychotherapie befreie jedoch nicht von Eigenverantwortlichkeit.
Ziel einer Psychotherapie sei vielmehr, „ein normales Leben führen zu können“. Dies heiße beileibe nicht die Abwesenheit negativer Gefühle – ganz im Gegenteil: „Die Fähigkeit, sich zu deprimieren, Angst zu haben, ist normal angesichts der Enttäuschungen und Gefahren des Lebens.“ Es sei eher auffällig, wenn dies nicht der Fall sei. So sei das höchste Ziel des Lebens nicht das vollständige, anhaltende Glück, sondern „ein emotional reiches Leben“.
Nicht immer können die Gesprächspartner ihren Anspruch, ihre Diskussion für den „gebildeten Metzger“ verständlich zu halten, einlösen. Der erste Teil des Gesprächs ist zunächst zugeschnitten auf Leserinnen und Lesern, die sich nicht selbst in den Sphären psychopathologischer Interventionen tummeln, und eignet sich durchaus zur Orientierung für Hilfesuchende, die sich in dem komplexen Dschungel der therapeutischen Angebote zurechtzufinden versuchen.
Im weiteren Verlauf driften sie anschließend zuweilen ab in ein Fachgespräch über verschiedene Strömungen der Psychoanalyse, über Machtkämpfe zwischen Kleinianern und Freudianern innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, über die Zukunftschancen der Psychoanalyse in der empirisch-wissenschaftlich geprägten Psychologie. Es ist ein natürliches Gespräch zweier, die sich in diesen Bereichen bestens auskennen, und die nicht immer im Blick haben, wer mitliest. Kernbergs Schilderungen seiner Erfahrungen und Begegnungen als Vorsitzender der IPV und seine stets liebevoll-humoristisch beschriebenen Patientenanekdoten sind dennoch höchst lesenswert, und sowohl für Leser mit Fachkenntnissen, als auch für Laien aufschlussreich und unterhaltsam.
Noch intensiver wird das Gespräch in den Abschnitten über Kernbergs eigene Lebensgeschichte. 1928 als Jude in Wien geboren, berichtet er davon, wie er als neunjähriger Junge zunächst neugierig auf der Straße stand und den Einmarsch der Nationalsozialisten bejubelte, in seinem kindlichen Unwissen „Heil Hitler“ rief und die Reden des ‚Führers‘ humorvoll imitierte. Dann von den antisemitischen Erniedrigungen seiner Eltern auf offener Straße, und schließlich der im Sommer 1939 gerade noch geglückten Flucht über Italien nach Chile. Er erzählt, wie nach dem Ende des Weltkrieges das Ausmaß des Holocaust erst nach und nach, wie ein „sich langsam entwickelndes Entsetzen“ zu ihnen nach Südamerika gelangte, und wie es sich für ihn anfühlte, 1953 zum ersten Mal in seine geliebte Heimat Wien zurückzukehren.
Im Zuge dessen verhandeln Kernberg und Lütz die Frage, inwieweit das Böse und das Pathologische sich überschneiden, wo die Grenze zwischen Massenphänomen und eigenem Handeln, zwischen Mitläufern und Tätern verläuft, und wie man als Psychotherapeut den Drahtseilakt zwischen Nachvollziehen und Moral schafft: „Ein Psychoanalytiker sollte theoretisch verstehen, wie etwas entstand, was sich dann als Böses entpuppte, und gleichzeitig sollte er sich die moralische Entrüstung über das Böse bewahren.“
Auch den Fragen nach Religion, Gott und Glauben gehen Lütz und Kernberg nach. Es ist ein interessantes Spiel der Wechselseitigkeit, wenn Lütz in diesen Abschnitten plötzlich aus der Rolle des Fragenden hinaustritt und zum theologischen Lehrer wird, sich plötzlich die Redeanteile verschieben und Kernberg sich nicht zu schade ist, neue, noch nicht bedachte Aspekte aufzunehmen und mit einem sympathischen „ich muss darüber nachdenken“ zu beantworten.
Sie sprechen über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, über Missbrauch in Therapeuten-Patienten-Beziehungen und von autoritären Strukturen in Institutionen, die solche Fälle verschleiern. Auch die Besonderheiten von Persönlichkeitsstörungen, Narzissmus, Donald Trump und der Einfluss sozialer Medien kommen zur Sprache.
Ob der Vielzahl hochinteressanter Themen und Aspekte verzeiht man dem Buch die aufgrund der Gesprächssituation verständliche Unstrukturiertheit sowie die plakativen, völlig unnötigen und künstlich eingefügten Zwischenüberschriften, die den Lesefluss eigentlich nur stören.
Die Person Kernberg und die Widmung seines Lebenswerkes allein ist Grund genug, dieses Buch als gelungenes Resumé eines langen und noch immer mit Volldampf gelebten Lebens zu bezeichnen. Otto Kernberg ist ein Paradebeispiel für differenzierte Nachdenklichkeit, Lust am offenen Diskurs und lebensbejahende Unvoreingenommenheit. Seine klugen Aussagen haben mehr Schlagkraft als jede populistische Parole, ohne je Allgemeingültigkeit zu beanspruchen.
Manfred Lütz: Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?
Herder 2020
Beitragsbild: Image by Free-Photos from Pixabay